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Melchisedek
Melchisedek ist Priesterkönig in der "Stadt des Friedens" und wird
in der Bibel an 3 zentralen Stellen erwähnt: in den
Abrahamgeschichten (1. Mose 14), im Messias-Psalm 110, den wiederum
Jesus zitiert, und im theologisch hochkarätigen Hebräerbrief des
Neuen Testaments. Betrachten wir diese Stellen nun nacheinander etwas
näher. Wir müssen dazu allerdings von der Oberfläche der Berichte
weit in ihre wesentlich symbolische Bedeutung hinuntersteigen.
In der 1000-jährigen Basilika von Gernrode am Nordrand des Harz
zeigt das Deckengemälde die alttestamentlichen Patriarchen und
Propheten in der Reihenfolge ihres Auftretens in der Bibel. Das
nebenstehende Bild ist davon der erste Ausschnitt: Adam, eingerahmt
von Noah und Melchisedek, auf den er mit dem Finger weist.
Melchisedek, sagt dieses Bild, gehört zum Urbestand der
Schöpfung.
Melchisedek und Abraham
Im 14. Kapitel des 1. Buchs Mose wird erzählt, wie der im Land
Kanaan noch nicht seßhafte Abraham zunächst Zeuge und dann Mitspieler
in kriegerischen Auseinandersetzungen der lokalen Stadtkönige von
Sodom, Schinar und anderer Städte wird. Als sein in Sodom wohnhafter
Neffe Lot gefangen genommen wird, gibt Abraham seine Zuschauerrolle
auf und greift erfolgreich in die Kämpfe ein – er befreit nicht nur
seine Verwandten, sondern kehrt auch noch mit reicher Beute zurück.
Der Fremdling im Land hat sich damit den örtlichen Königen als
ebenbürtig erwiesen.
Unvermittelt wechselt nun für einige Sätze die Szene: "Und
Melchisedek, Priester des höchsten Gottes, der König von Salem,
brachte Brot und Wein heraus. Er segnete Abram1) und
sagte: Gesegnet sei Abram vom höchsten Gott, dem Schöpfer des Himmels
und der Erde, und gepriesen sei der höchste Gott, der deine Feinde an
dich ausgeliefert hat. Daraufhin gab ihm Abram den Zehnten von
allem." (1. Mose 14, 18-20).
1) Abraham heißt hier - vor seiner
Beschneidung - noch Abram.
Ebenso unvermittelt kehrt danach die Szene wieder zur vorigen
Erzählung der Verhandlungen Abrahams mit den Königen zurück. Nur
diese 3 Sätze über Melchisedek, nicht mehr – das erscheint auf den
ersten Blick gewiß nicht so bedeutsam, dass man nicht leicht darüber
hinweg lesen würde.
Aber nun heißt es im Psalm 110 über den Messias: "Setz dich zu
meiner Rechten ... ich habe dich gezeugt noch vor dem Morgenstern ...
und du bist Priester auf ewig nach der Ordnung Melchisedeks".
Erstaunlich - denn als dieser Psalm gedichtet wurde, gab es im
kultischen Leben des Volks Israel schon lange eine festgefügte
Priesterschaft, die nach der Erzählung vom Bundesschluß am Berg Sinai
in der Ordnung Aarons, des Bruders Moses, stand. Im Psalm ist aber
offenbar von einer höheren Ordnung die Rede – das einzige Mal im
Alten Testament. Ein guter Grund, sich die Schilderung Melchisedeks
in der Abrahamgeschichte noch einmal näher anzusehen (trotz der
theologischen Sprach- und Gedankenwelt, in die man damit eintreten
muss):
Der Abraham, dem Melchisedek gegenübertritt, ist ja dadurch vor
allen andern hervorgehoben, dass der einzige und wahre Gott ihn
herausgerufen hat aus der Gemeinschaft derer, die falsche Götzen
anbeten – so das Verständnis derer, die die Abrahamgeschichte
aufgeschrieben haben – und ihn in die Fremde geschickt hat, um ihm
dort eine neue Zukunft zu geben als Stammvater des Volkes, das den
wahren Gott kennt und nur ihm allein dient. Doch nun tritt diesem
Abraham im götzendienerischen Kanaan ein Priester Melchisedek
gegenüber, der kein dummer Heidenpriester ist, sondern ganz
selbstverständlich als "Priester des höchsten Gottes" bezeichnet wird
und Priesterkönig in der "Stadt des Friedens", Jerusalem, ist. Und
dieser Priesterkönig wiederum empfängt Abraham nicht huldvoll zur
Audienz, sondern "kommt heraus" aus der Friedensstadt, geht Abraham
entgegen auf das Schlachtfeld, um ihn mit den Ursymbolen des Lebens
Brot und Wein zu begrüssen und zu segnen. Und Abraham, der
Auserwählte, erkennt dessen Gott und Priesterschaft an, indem er ihm
den Zehnten gibt.
Eine tief bewegende Geschichte, wenn man sich ein wenig in sie
versenkt, und eine verblüffende dazu. Man könnte meinen, nach dem
Anfang mit Abrahams Aussendung wird nun erzählt, wie Abraham in dem
ihm gezeigten Land einen Vorposten gegen Heidentum und Götzendienerei
bildet. Stattdessen erkennt er, dass der höchste Gott dort schon
längst präsent ist und ihm, dem Ausgeschickten, am Ziel entgegenkommt
mit Brot und Wein, in Gestalt des Priester- und Friedenskönigs
Melchisedek. In der Tat steht offenkundig Melchisedek weit über den
Akteuren der Händel und Wirren der übrigen Geschichte; er wirkt wie
(und ist tatsächlich) der Einbruch einer höheren Welt in die kleine
Geschichte dieser Lokalkönige. Unverkennbar ist der universelle
Charakter seiner Priesterschaft, die, wie gesagt, auch von
Abraham erkannt und vorbehaltlos geehrt wird.
In aller Kürze klingt in dieser Geschichte vieles an, was uns
später bei Jesus wieder begegnet.
Ist Melchisedek eine historisch greifbare Gestalt? Der Mosetext
stellt es so dar – aber: ist das für die Aussage und das Verständnis
dieser Geschichte wirklich wichtig?
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Jesus und der Messias-Psalm 110
Ein theologisches Streitgespräch
"Als Jesus im Tempel lehrte, sagte er: Wie können die
Schriftgelehrten behaupten, der Messias sei der Sohn Davids? Denn
David hat, vom Heiligen Geist erfüllt, selbst gesagt: Der Herr sprach
zu meinem Herrn: Setze dich mir zur Rechten, und ich lege dir deine
Feinde unter die Füsse. David selbst also nennt ihn HERR. Wie kann er
dann Davids Sohn sein?" (Mk. 12, 35-37a).
Der Ort im Evangelium, an dem Jesus diesen David-Psalm zitiert, ist ein
Streitgespräch mit den Schriftgelehrten, also mit den Hütern der authentischen
Schriftauslegung und der Rechtgläubigkeit des jüdischen
Volks. Diesen Zusammenhang muss man sich ganz klar machen, ehe man
die Aussage Jesu in dieser Textstelle verstehen kann: In diesen
Schriftgelehrten verkörpert sich das Selbstbewusstsein eines Volkes,
das sich schon immer religiös als Besonderheit verstand und dessen
höchster Ehrentitel in der Selbstbezeichnung als "Kinder Abrahams"
liegt (vgl. Mt. 3, 9; Joh. 8, 39). Die
Sonderrolle, in der sie sich selbst anderen Völkern gegenüber sehen,
findet ihren Ausdruck insbesondere im Tempelkult, der von den
"Priestern nach der Ordnung Aarons" aus dem Volksstamm Levi verwaltet
und ausgeübt wird.
Unübersehbar ist zunächst die Spannung, in der dieses Priestertum
mit dem Priestertum "nach der Ordnung Melchisedeks" schon äußerlich
steht:
- hier ein auf ein einzelnes Volk ausgerichtetes Priesteramt,
dessen Ausübung auf eine spezielle Gruppe dieses Volkes
beschränkt ist und das im Rahmen eines speziellen Ereignisses
(Bundesschluss am Sinai) eingerichtet wurde,
- dort ein universelles, durch nichts eingegrenztes und offenbar
schon immer bestehendes Priestertum.
Der vorläufige, ja provisorische Charakter des aaronitischen
Priestertums fällt einem außenstehenden Betrachter bei diesem
Vergleich sofort auf: die aaronitische Priesterschaft ist sozusagen
eine Gesellschaft mit begrenztem Auftrag und beschränkter Haftung.
Die Schriftgelehrtenschaft, mit der Jesus zu tun hatte, war jedoch
kein außenstehender Betrachter und zu einer solchen Sichtweise nur
schwer fähig.
Was tut Jesus nun mit seiner Frage? Er begibt sich mit ihr auf die
theologische Denkebene dieser Schriftgelehrten und relativiert von dort
aus mit seiner simplen Frage zwei Dinge, die für das
Selbstverständnis als jüdisches Volk konstitutiv, identitätsstiftend
waren: der Bezug auf die Königslinie Davids, und eben das
aaronitische Priestertum. Mit der Frage nach der Herkunft des Messias
sagt er den Schriftgelehrten: "Ihr wollt die Elite und Führer das
Volkes sein und es über den Messias, über Gottesdienst und anderes
belehren, und kennt euch selbst nicht aus und haltet das Volk in
euerer eigenen Unkenntnis gefangen. Wie könnt ihr meinen, dass sich der Messias
durch eine Abstammung aus dem Haus Davids für das Volk Israel allein vereinnahmen lässt
- sein Handeln geht doch weit über das aaronitische Priestertum hinaus"?
Jesus und die Religion
Kehren wir, um diesen Angriff in vollem Umfang würdigen zu können,
noch einmal zur Einbettung dieser Stelle zurück, denn ich bin
überzeugt, das man von dem, was Jesus hier mit seiner Messiasfrage
ausdrücken will, nicht die Hälfte versteht, wenn man diesen
Zusammenhang nicht berücksichtigt. Es ist doch sehr bemerkenswert,
dass die drei Evangelisten Matthäus, Markus und Lukas trotz aller
Unterschiede, die ihre Berichterstattung an anderen Stellen aufweist,
hier über mehrere Episoden hin fast völlig parallel und
offenbar ganz bewußt die Stationen einer vernichtenden
Auseinandersetzung Jesu mit dem religiösen Establishment
aneinanderreihen2). Wenn man sich richtig hineindenkt, gehört diese
Geschehniskette zu den aufwühlendsten Abschnitten des Evangeliums.
Sie kann hier nur grob skizziert werden, es lohnt sich aber
unbedingt, diesen Abschnitt aufmerksam ganz zu lesen (bei Markus Kap.
11 + 12).
2)
bzw. einhellig die Reihenfolge ihrer
gemeinsamen Vorlage im Wesentlichen übernehmen.
Die Geschehniskette beginnt mit der Geschichte vom Einzug Jesu in Jerusalem,
unter den Hosianna-Rufen der Leute, wenige Tage vor seiner Kreuzigung. Im
Rahmen einer Geschichte, die die Frage aufwirft, was Glaube
eigentlich ist, folgt die Erzählung von der Tempelreinigung – Jesus
stößt den Opfertierhändlern und Geldwechslern die Tische um und ruft
den berühmten Satz "Mein Haus soll ein Bethaus für alle
Völker sein, ihr aber macht eine Räuberhöhle daraus". Dann wird
in vier Abschnitten geschildert, wie die verschiedenen Parteien der
Schriftgelehrten Jesus mit Fangfragen hereinlegen wollen (darunter
die bekannte Frage nach der Steuerzahlung), wie Jesus diese so
abwehrt, dass "sie sehr erstaunt waren über ihn" und mit dem
Gleichnis von den bösen Winzern so massiv zum Gegenangriff übergeht,
dass sie "daraufhin Jesus gerne hätten verhaften lassen, denn sie
hatten gemerkt, dass er mit diesem Gleichnis sie meinte".
Plötzlich, im nun folgenden Abschnitt, klärt sich das turbulente
Geschehen für kurze Zeit, die Wogen der Erzählung kommen in einer
Weise zur Ruhe und auf das Wesentliche, dass sich der Vergleich mit
der Erzählung von der Verklärung Jesu auf dem Berg aufdrängt (Mk. 9,
2ff). Wie der ebenso unvermittelte Melchisedekabschnitt
in der Abrahamgeschichte, ist dieser Abschnitt nach dem Staub des
Vorhergehenden ein Aufstrahlen göttlichen Lichts, der Aufstieg der Seele
zur Ruhe auf dem Berg Tabor.
Mit wenigen starken und klaren Worten wird nun gesagt, worauf es
allein ankommt. Nach den abseitigen theologischen Streitereien der
Schriftgelehrten stellt jetzt einer von ihnen, der bisher nur
zugehört hatte, Jesus eine echte Frage: Welches Gebot ist das erste
von allen? Und Jesus antwortet ernsthaft, direkt, ohne Gegenfrage und Tadel,
mit Worten die alle kennen, mit dem Grundbekenntnis Israels (5. Mose
6,4), indem er es erweitert und konkretisiert zum "Doppelgebot der Liebe":
Höre Israel, Der HERR, unser Gott, ist der einzige
Herr. Darum sollst du den HERRN, deinen Gott, lieben mit
ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deinen Gedanken und
all deiner Kraft.
Das zweite ist dem gleich: Du sollst deinen Nächsten
lieben wie dich selbst.
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Und dieser Schriftgelehrte sagt: sehr gut! Und "keiner wagte mehr,
Jesus eine Frage zu stellen" – die Feinde waren ihm vollständig "unter
die Füße gelegt" (Ps. 110!).
Dies ist nun die Stelle, an der Jesus die Messiasfrage in den Raum
wirft. Vom Berg Tabor wieder heruntergestiegen, hält er sich nicht mehr auf
mit Antworten auf Fragen nach dem Steuerzahlen oder dem Heiraten nach
der Auferstehung, sondern wirft jetzt selbst die Lanze. Mit
der Messiasfrage – auf den Punkt gebracht durch die Anbindung an den
Melchisedekpsalm 110, die dem Messiasgedanken eine umfassende
ökumenische Weite gibt – trifft er ins Zentrum.
Und als die Schriftgelehrten diese Frage ohne Antwort lassen, sagt er
(zur Freude des zuhörenden Volks, wie Markus vermerkt) den klugen Theologen
und geistlichen Leitern des Volks unverblümt ihre Wahrheit: "Sie gehen gern
in langen Gewändern umher und lieben es, auf den Plätzen gegrüßt zu werden.
Nehmt euch in acht vor ihnen! Sie bringen die Witwen um ihre Häuser ... "
Bringen die Witwen um ihre Häuser, während sie fromm tun? Der
Vorwurf der Korruptheit der Volksvertreter ist uns nicht ganz
unbekannt. Das Evangelium bringt mehrere Beispiele dafür, ein ganz
deutliches schließen die 3 Evangelisten gerade hier an, als Abschluß der
Erzählfolge, in die die Messiasfrage Jesu eingebettet ist:
Jesus saß dem Opferkasten gegenüber und sah
zu.
Er sah zu, wie die Leute Geld in den Kasten warfen.
Viele Reiche kamen und gaben große Beträge. Da kam auch eine
arme Witwe und warf zwei kleine Münzen hinein.
Jesus rief seine Jünger zu sich und sagte: Wirklich,
ich sage euch, diese Witwe hat mehr hineingeworfen als alle
anderen, die nur von ihrem Überfluß etwas hergegeben haben.
Diese Frau aber, die kaum das Nötigste zum Leben hat, sie hat
alles gegeben, was sie besaß – ihren ganzen Lebensunterhalt
hat sie gegeben!
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Gewöhnlich wird diese Geschichte aus ihrem Zusammenhang
herausgelöst und so ausgelegt, dass Jesus die Opferbereitschaft der
Frau seinen Jüngern als Vorbild hinstellt und als Beispiel, das wir
nachahmen sollen. Damit erfasst man aber die Aussage dieser Geschichte
bestenfalls zur Hälfte. Gewiß ist Jesus vom Glauben dieser Frau, der ihr
ermöglicht, nichts festzuhalten und ganz vertrauend zu leben, beeindruckt
und will seine Jünger darauf hinweisen. Der Zusammenhang lässt aber noch eine
andere Beurteilung Jesu erkennen: was ist das für eine Verkehrung des Glaubens
unserer Väter, was für eine schwielige Religion, die das von dieser
Frau verlangt und als gottgefällige Tat erscheinen lässt! Jesus, der
das Ganze von außen beobachtet, ist darüber zutiefst erschüttert (die
Wiederholung "ihren ganzen Lebensunterhalt"
zeigt das). Er verlässt mit seinen Jüngern den Tempel, und als sie im Weggehen – immer noch nicht
verstehend – den stolzen Bau bewundern, kündigt er ihnen dessen völlige Zerstörung
an: "Kein Stein wird auf dem anderen bleiben, alles wird
niedergerissen", und er meint: mit dem Bauwerk auch die ihm verhaftete
Religionsform, die Priesterschaft nach der Ordnung Aarons.
Das ist der Abschluß der Geschehniskette aus Markus 11 & 12.
Kein Wunder, dass Jesus von den Schriftgelehrten, vom religiösen
Establishment, von den auf Bewahrung und Ordnung bedachten und von
der Wichtigkeit ihrer Rolle überzeugten Hütern des Volks, ans Kreuz
gebracht wurde.
Jesus erwähnt Melchisedek nicht ausdrücklich, wie er sich auch selbst
nur in speziellen Ausnahmefällen als Messias bezeichnet, aber es ist deutlich:
Er braucht ihn nicht erwähnen, denn er lebt diese Priesterschaft
Melchisedeks.
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Ökumenischer Arbeitskreis
Melchisedekabend 23-Nov-2003
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Neue Zugänge zum Glauben
Wir sind jetzt vorbereitend einen langen Weg durch eine zum Teil
ungewohnte Gedankenwelt gegangen. Es wird Zeit, den Anspruch des
Themas dieses Abends, "Neue Zugänge zum Glauben", zu begründen und zu
zeigen, dass diese zum Teil vielleicht abgehoben erscheinenden Überlegungen
doch sehr lebensnahe Konsequenzen haben können.
Zuvor müssen wir aber noch wenigstens einen kurzen Blick auf den
Hebräerbrief, am Ende des Neuen Testaments, werfen, denn der Hebräerbrief
ist von allen Büchern der Bibel dasjenige, das am ausführlichsten von
Melchisedek schreibt. Er fügt dem Bisherigen allerdings kaum Neues
hinzu, sondern interpretiert im wesentlichen in einer hochtheologischen
Gedankenführung den Melchisedekgedanken für seine Leser.
Der Hebräerbrief
Der Verfasser dieses Briefs ist unbekannt. Name und Inhalt des
Briefs zeigen jedoch, dass die Adressaten Christen sind, die aus dem
Judentum stammen und ihm noch nahestehen.
Die Kapitel 5-7 stellen Christus als den neuen und endgültigen
Hohenpriester "nach der Ordnung Melchisedeks" dar. Die Bedeutung der
Priesterschaft Melchisedeks wird dabei im Denkrahmen
der jüdischen "Sündenbocktheologie" entfaltet. Das im Einzelnen zu
erörtern würde hier zu weit führen. Wir greifen nur die
folgenden Punkte heraus, die über diesen Denkrahmen hinausweisen:
- Während man sich bei der Abrahamerzählung noch fragen konnte,
wer dieser Melchisedek historisch gesehen wohl "wirklich war",
verlagert der Hebräerbrief in Kap. 7,2f die Sicht ganz
klar ins Symbolische, denn er sagt über Melchisedek: "Er, dessen
Name 'König der Gerechtigkeit' bedeutet und der auch König von
Salem ist, das heißt 'König des Friedens' – er, der ohne
Vater, ohne Mutter und ohne Stammbaum ist, ohne Anfang seiner
Tage und ohne Ende seines Lebens, ein Abbild des Sohnes
Gottes ...".
Melchisedek ist damit keine in einer bestimmten Epoche für
eine bestimmte Lebenszeit auftretende "historische" Person, er
ist etwas, das der Schöpfung von Anbeginn an "eingewoben" ist und
in ihr wirkt – er gehört, wie gesagt, zum Urstoff der
Schöpfung. Interessant ist auch, dass dabei zwischen Melchisedek und dem Messias
eine Art Kreisbeziehung aufgebaut wird: einerseits ist Melchisedek ein
"Abbild des Sohnes Gottes", andererseits tritt Jesus ein in die schon bestehende
Priesterschaft "nach der Ordnung Melchisedeks".
- Im 6. Kapitel steht eine verblüffende Feststellung über die Gewichtigkeit
des Melchisedek-Gedankens. Da wird für die Verkündigung unterschieden zwischen
"Milch" für die unmündigen Kinder, die noch "unfähig sind, richtiges Reden zu
verstehen", und "fester Speise für Erwachsene", um dann die folgenden Kapitel
über Melchisedek so einzustufen: "Darum wollen wir jetzt beiseite
lassen, was man zuerst von Christus verkünden muss (über die Abkehr von toten
Werken ... die Taufen ... die Auferstehung der Toten ...), und uns dem
Vollkommeneren zuwenden". Feste Speise soll also mit dem Melchisedek-Kapitel
geboten werden.
Es scheint, dass damals wie heute den Gemeinden mit Vorliebe
Milch, aber feste Speise viel seltener verabreicht wird, andernfalls
wäre das Glaubensbild des Melchisedek viel bekannter. Der
Hebräerbrief deckt mit der Betonung der Melchisedek-Priesterschaft
Christi (die in den Evangelien nur verhüllt angedeutet wird) offenbar
einen entscheidend wichtigen Punkt der christlichen Verkündigung auf,
wenn er sich auch in der Ausdeutung durch den alleinigen Bezug auf
die Sündenbocktheologie vornehmlich an seinen judenchristlichen
Adressatenkreis wendet. Mein Eindruck beim Lesen des Hebräerbriefs
ist sehr stark, dass er, indem er einen gedanklichen Weg konzentriert
bis ans sein Ende beschreitet, über den Endpunkt dieses Weges hinausweist
und eine Tür für Neues öffnet, aber selbst noch nicht hindurchgeht.
Wir wollen uns aus ihm die obigen beiden Punkte merken.
Ein neues Leitbild für uns
Die Melchisedek-Priesterschaft Christi ist für moderne, dem
kirchlichen Leben entwöhnte Menschen wohl ein schwer
nachvollziehbares, zunächst vielleicht nichtssagendes Bild. Sie
wirft aber ein ganz neues Licht auf die Frage, wer Christus für uns
ist und wer wir für Christus sind, und da wird es ganz praktisch, ja
sogar politisch.
In einem weiteren Brief des Neuen Testaments, dem 1. Petrusbrief,
lesen wir nämlich über das Volk Gottes: "Ihr seid ... die königliche
Priesterschaft, das heilige Volk ..., dass ihr verkündigen sollt die
Wohltaten dessen, der euch berufen hat" (1. Petrus 2,9).
Dieser ungeheure Zuspruch bedeutet nicht weniger, als dass wir als
Nachfolger Christi nicht passive Objekte der Melchisedek-Priesterschaft
Christi sind, sondern mit ihm ebenfalls "Priester nach der
Ordnung Melchisedeks". Diese Übertragung der Melchisedek-Priesterschaft
hängt nicht nur an dieser Petrusstelle, sondern wird von einer Reihe
weiterer Stellen untermauert. Z.B. sagt Jesus im "Hohenpriesterlichen
Gebet" (17. Kapitel des Johannesevangeliums) "Wie du mich in die Welt
gesandt hast, so sende auch ich sie in die Welt" – nämlich als
Priester nach der Ordnung Melchisedeks, und weiter: "Vater, ich will,
dass, wo ich bin, auch sie bei mir seien".
Ich bin Priester nach dieser Ordnung Melchisedeks – jeder
kann für sich durchdenken, was diese Aussage für ihn bedeutet. Mir
stellt sich unweigerlich die Frage, wie die christliche Geschichte
verlaufen wäre, wenn dieses Leitbild von Anfang an deutlich im
Bewußtsein gewesen und verinnerlicht worden wäre – hätte es dann in
der christlichen Welt Ketzerverbrennungen, die Erfindung des
Kapitalismus oder die heutige Umweltproblematik gegeben? Und welche
Kirchenstrukturen hätten wir dann heute?
Eine weitere Steigerung ist nicht mehr möglich? Vielleicht doch.
Skizzieren wir mit einigen abschließenden Strichen, wie man
weiterdenken könnte - oder muss! Es gibt da im Glaubensbekenntnis die
auf den ersten Blick unscheinbare Aussage über Christus (die u.a.
ebenfalls auf Psalm 110 zurückgeht) "er sitzt zur Rechten des
Vaters ... ". Diese Aussage, meine ich, muss mehr beinhalten als nur
einen Ehrenplatz bei Gott, sonst wäre das kaum ins Glaubensbekenntnis
gekommen. Kurz angedeutet, geht es bei ihr um die volle Übertragung
der "Regierungsgewalt" auf Jesus, der "zur Rechten sitzt", während Gott
selbst in den Hintergrund, ins Verborgene tritt.
Dies wird unterstrichen und zum Abschluß gebracht durch den
berühmten "Missionsbefehl" am Ende des Matthäusevangeliums, wo Jesus
bei seinem Abschied zu den Jüngern sagt "Mir ist gegeben alle Macht
im Himmel und auf Erden ... " – er sitzt zur Rechten – " ... darum
geht ihr hin zu allen Völkern". Also nochmals so eine
Übertragung! Gott bleibt verborgen, ungreifbar, unauffindbar – um nicht
zu sagen widersinnig – für alles außer einem liebenden Herzen,
und auch Jesus, sein bevollmächtigter Stellvertreter und der Pulsschlag des
Universums, nimmt sich nach dieser Matthäusstelle ausdrücklich zurück und ist
in der Menschenwelt nur durch seine Jünger präsent.
Dies wird im 1. Johannesbrief so ausgedrückt "Niemand hat Gott je gesehen, aber
wenn wir einander lieben, dann bleibt Gott in uns ... Wer in der Liebe bleibt,
der bleibt in Gott und Gott in ihm ... Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den
er sieht, kann nicht Gott lieben, den er nicht sieht" (interessant hier eine
unerwartete Nähe zu atheistischen Aussagen, die hier nicht mehr nur einfach als
religionsfeindlich erscheinen!). "Ich will, dass, wo ich bin, auch sie bei mir
seien", nämlich als Priester nach der universellen Ordnung Melchisedeks zur
Rechten des Vaters (und vorher in dieser Welt vielleicht auch am Kreuz!) -
dieses Wort aus dem Johannesevangelium beinhaltet m.E. auch die Tiefenschicht und
die eigentliche Essenz des Missionsbefehls aus "Matthäi am Letzten".
Ich glaube, dass das damit skizzierte Leitbild tatsächlich einen Zugang
zum christlichen Glauben bietet, der über alles Bisherige weit hinausgeht,
würdig für den Eintritt der Christenheit ins 3. Jahrtausend, in dem einiges
anders werden muss als es bisher gedacht und gelebt wurde, wenn die Menschheit
überleben will. Er würde den Kirchen eine gewaltige Umorientierung abverlangen,
denn weder die "top-down"-Struktur des Katholizismus (und der Ostkirchen) noch die
individualistische Sündenfixierung des Protestantismus kommen diesem Leitbild nahe.
Ich glaube auch, dass damit ein wesentlicher Schritt zur Verwirklichung dessen getan
würde, was Jesus mit seinem Ruf zur Nachfolge, mit dem Vaterunser und mit der erneuerten
ausschließlichen Priorität, die er dem "Doppelgebot der Liebe" zuspricht, gemeint hat.
Schlußbemerkungen
Es mag sein, dass das Leitbild eines universalen Hohenpriesters des
Friedens nicht jeden anspricht und nicht für jeden eine
Identifikationsmöglichkeit bietet. Leitbilder haben immer einen stark
persönlichen Bezug – welches Leitbild einer für seinen Glauben wählt,
hängt sehr stark mit seinem persönlichen Lebenszugang und mit den
fundamentalen Fragen, die er stellt, zusammen:
Luther zum Beispiel, der in Deutschland antrat, massive Mißstände im
kirchlichen Leben zu reformieren, stellte aufgrund seiner Lebens- und
Kirchenerfahrung die Frage "Wie kriege ich einen gnädigen Gott?" und
kam so zum Leitbild der "Rechtfertigung allein durch den Glauben".
Theresa von Avila, die eine Generation nach Luther in Spanien
ihren weitgehend verweltlichten und geistlos gewordenen
Karmeliterorden reformierte (und damit weit über ihren Orden hinaus
das geistliche Leben bis in unsere Zeit), stellte andere Fragen und kam
zu einem anderes Leitbild,
das man vielleicht beschreiben könnte als eine Braut, die ihrem
Bräutigam entgegeneilt und sich liebend in seine Arme fallen lässt.
Es ist deshalb wichtig, dass unterschiedliche Leitbilder
angeboten und wachgehalten werden. Das meint auch der Plural "Neue
Zugänge" im Titel des Abends: es wäre nicht nur zwecklos (und im
Widerspruch zum "Bibel-zum-Anfassen"-Ansatz), autoritativ und ex
cathedra 1 neues Leitbild zu "dekretieren". Auch das Melchisedek-Leitbild
stellt keinen völlig fixierten Deutungsrahmen dar und ist offen
für unterschiedliche Ausprägungen und Gewichtungen.
So ist es zum Schluß vielleicht hilfreich, das Melchisedek-Leitbild
anzuknüpfen an ein bekannteres: Im sogenannten "Gleichnis vom
verlorenen Sohn" (Lukas 15,11ff) entwickelt Jesus das
Leitbild des "barmherzigen Vaters", der mit Melchisedek viel
gemeinsam hat. Was den persönlich-menschlichen Aspekt betrifft, kann
der Vater, der – nachdem er seinen Sohn in eine selbstgewählte
Freiheit entlassen hat – mit wartendem Herzen jederzeit bereit ist,
dessen Rückkehr zu feiern, durchaus mit Melchisedek gleichgesetzt
werden. Jesus ruft mit diesem Gleichnis ausdrücklich dazu auf, sich
das Leitbild des "barmherzigen Vaters" zueigen zu machen, und
dieses Leitbild mag für viele eine näherliegende
Identifikationsmöglichkeit bieten als der unbekannte Melchisedek.
Das Melchisedek-Leitbild reicht jedoch weiter, es hat über den
persönlich-menschlichen Aspekt hinaus ökologische, ökonomische und
politische und letztlich "kosmische" Aspekte – der universelle
Charakter dieses Priestertums wurde bereits eingangs hervorgehoben.
Zusammen mit der im vorigen Abschnitt skizzierten Ausweitung dieser
Priesterschaft auf alle Gläubigen (d.h. auf alle, die Jesus auf dem
Weg des 1. Gebots nachfolgen) bildet das Melchisedek-Leitbild somit eine
überaus konkrete und weitreichende Handlungsbasis, die als neue Stütze auf
dem Weg in die "Zukunft der Kirche" unverzichtbar erscheint.
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