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Ökumenischer Arbeitskreis

Melchisedekabend
23-Nov-2003



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Neue Zugänge zum Glauben - auf den Spuren Melchisedeks

Zu diesem Thema bot der Ökumenische Arbeitskreis zum Ende des Jahres der Bibel (2003) einen Abend unter dem Motto "Bibel zum Anfassen" an. Das Motto meint, dass die Teilnehmer nicht einfach einem Vortrag lauschen, sondern selbst die Bibel aufschlagen und die behandelten Texte lesen und miteinander besprechen – in diesem Fall als "Gemeinsame Endeckungsreise vom Alten zum Neuen Testament". Es war trotz weniger Teilnehmer ein anregender Abend, und es wurde der Wunsch geäußert, etwas Derartiges wieder einmal anzubieten.

Viele haben den Namen Melchisedek nie gehört, und obwohl er sich wie ein roter Faden vom Anfang bis zum Ende durch die Bibel zieht (wenn auch unterschwellig), wissen oft selbst Theologen nicht genau, was sich mit ihm eigentlich verbindet.

Welche Berechtigung hat dann die anspruchsvolle Behauptung "Neue Zugänge zum Glauben"? Dies wird – in der in diesem Fall gebotenen Ausführlichkeit – im folgenden Beitrag erläutert. Zugang meint so etwas wie einen Leitgedanken, ein "Paradigma" oder Glaubensbild, das dem Glauben an den unsichtbaren Gott einen Rahmen, Gestalt und Fleisch gibt. Melchisedek bietet einen solchen Zugang, und zwar von unverbrauchter Kraft und Frische. Um das zu verstehen, müssen wir uns zuerst die wirklich spannenden biblischen Berichte über und um Melchisedek aneignen.

Melchisedek mit Adam und Noah. Deckengemälde aus der ottonischen Stiftskirche zu Gernrode.



Melchisedek mit Adam und Noah. Deckengemälde aus der ottonischen Stiftskirche zu Gernrode.



Melchisedek mit Adam und Noah. Deckengemälde aus der ottonischen Stiftskirche zu Gernrode.

Melchisedek

Melchisedek ist Priesterkönig in der "Stadt des Friedens" und wird in der Bibel an 3 zentralen Stellen erwähnt: in den Abrahamgeschichten (1. Mose 14), im Messias-Psalm 110, den wiederum Jesus zitiert, und im theologisch hochkarätigen Hebräerbrief des Neuen Testaments. Betrachten wir diese Stellen nun nacheinander etwas näher. Wir müssen dazu allerdings von der Oberfläche der Berichte weit in ihre wesentlich symbolische Bedeutung hinuntersteigen.

In der 1000-jährigen Basilika von Gernrode am Nordrand des Harz zeigt das Deckengemälde die alttestamentlichen Patriarchen und Propheten in der Reihenfolge ihres Auftretens in der Bibel. Das nebenstehende Bild ist davon der erste Ausschnitt: Adam, eingerahmt von Noah und Melchisedek, auf den er mit dem Finger weist.

Melchisedek, sagt dieses Bild, gehört zum Urbestand der Schöpfung.


Melchisedek und Abraham

Im 14. Kapitel des 1. Buchs Mose wird erzählt, wie der im Land Kanaan noch nicht seßhafte Abraham zunächst Zeuge und dann Mitspieler in kriegerischen Auseinandersetzungen der lokalen Stadtkönige von Sodom, Schinar und anderer Städte wird. Als sein in Sodom wohnhafter Neffe Lot gefangen genommen wird, gibt Abraham seine Zuschauerrolle auf und greift erfolgreich in die Kämpfe ein – er befreit nicht nur seine Verwandten, sondern kehrt auch noch mit reicher Beute zurück. Der Fremdling im Land hat sich damit den örtlichen Königen als ebenbürtig erwiesen.

Unvermittelt wechselt nun für einige Sätze die Szene: "Und Melchisedek, Priester des höchsten Gottes, der König von Salem, brachte Brot und Wein heraus. Er segnete Abram1) und sagte: Gesegnet sei Abram vom höchsten Gott, dem Schöpfer des Himmels und der Erde, und gepriesen sei der höchste Gott, der deine Feinde an dich ausgeliefert hat. Daraufhin gab ihm Abram den Zehnten von allem." (1. Mose 14, 18-20).

1) Abraham heißt hier - vor seiner Beschneidung - noch Abram.


Ebenso unvermittelt kehrt danach die Szene wieder zur vorigen Erzählung der Verhandlungen Abrahams mit den Königen zurück. Nur diese 3 Sätze über Melchisedek, nicht mehr – das erscheint auf den ersten Blick gewiß nicht so bedeutsam, dass man nicht leicht darüber hinweg lesen würde.

 

Aber nun heißt es im Psalm 110 über den Messias: "Setz dich zu meiner Rechten ... ich habe dich gezeugt noch vor dem Morgenstern ... und du bist Priester auf ewig nach der Ordnung Melchisedeks". Erstaunlich - denn als dieser Psalm gedichtet wurde, gab es im kultischen Leben des Volks Israel schon lange eine festgefügte Priesterschaft, die nach der Erzählung vom Bundesschluß am Berg Sinai in der Ordnung Aarons, des Bruders Moses, stand. Im Psalm ist aber offenbar von einer höheren Ordnung die Rede – das einzige Mal im Alten Testament. Ein guter Grund, sich die Schilderung Melchisedeks in der Abrahamgeschichte noch einmal näher anzusehen (trotz der theologischen Sprach- und Gedankenwelt, in die man damit eintreten muss):

Der Abraham, dem Melchisedek gegenübertritt, ist ja dadurch vor allen andern hervorgehoben, dass der einzige und wahre Gott ihn herausgerufen hat aus der Gemeinschaft derer, die falsche Götzen anbeten – so das Verständnis derer, die die Abrahamgeschichte aufgeschrieben haben – und ihn in die Fremde geschickt hat, um ihm dort eine neue Zukunft zu geben als Stammvater des Volkes, das den wahren Gott kennt und nur ihm allein dient. Doch nun tritt diesem Abraham im götzendienerischen Kanaan ein Priester Melchisedek gegenüber, der kein dummer Heidenpriester ist, sondern ganz selbstverständlich als "Priester des höchsten Gottes" bezeichnet wird und Priesterkönig in der "Stadt des Friedens", Jerusalem, ist. Und dieser Priesterkönig wiederum empfängt Abraham nicht huldvoll zur Audienz, sondern "kommt heraus" aus der Friedensstadt, geht Abraham entgegen auf das Schlachtfeld, um ihn mit den Ursymbolen des Lebens Brot und Wein zu begrüssen und zu segnen. Und Abraham, der Auserwählte, erkennt dessen Gott und Priesterschaft an, indem er ihm den Zehnten gibt.

Eine tief bewegende Geschichte, wenn man sich ein wenig in sie versenkt, und eine verblüffende dazu. Man könnte meinen, nach dem Anfang mit Abrahams Aussendung wird nun erzählt, wie Abraham in dem ihm gezeigten Land einen Vorposten gegen Heidentum und Götzendienerei bildet. Stattdessen erkennt er, dass der höchste Gott dort schon längst präsent ist und ihm, dem Ausgeschickten, am Ziel entgegenkommt mit Brot und Wein, in Gestalt des Priester- und Friedenskönigs Melchisedek. In der Tat steht offenkundig Melchisedek weit über den Akteuren der Händel und Wirren der übrigen Geschichte; er wirkt wie (und ist tatsächlich) der Einbruch einer höheren Welt in die kleine Geschichte dieser Lokalkönige. Unverkennbar ist der universelle Charakter seiner Priesterschaft, die, wie gesagt, auch von Abraham erkannt und vorbehaltlos geehrt wird.

In aller Kürze klingt in dieser Geschichte vieles an, was uns später bei Jesus wieder begegnet.

Ist Melchisedek eine historisch greifbare Gestalt? Der Mosetext stellt es so dar – aber: ist das für die Aussage und das Verständnis dieser Geschichte wirklich wichtig?

Jesus
und der Messias-Psalm 110

Ein theologisches Streitgespräch

"Als Jesus im Tempel lehrte, sagte er: Wie können die Schriftgelehrten behaupten, der Messias sei der Sohn Davids? Denn David hat, vom Heiligen Geist erfüllt, selbst gesagt: Der Herr sprach zu meinem Herrn: Setze dich mir zur Rechten, und ich lege dir deine Feinde unter die Füsse. David selbst also nennt ihn HERR. Wie kann er dann Davids Sohn sein?" (Mk. 12, 35-37a).

Der Ort im Evangelium, an dem Jesus diesen David-Psalm zitiert, ist ein Streitgespräch mit den Schriftgelehrten, also mit den Hütern der authentischen Schriftauslegung und der Rechtgläubigkeit des jüdischen Volks. Diesen Zusammenhang muss man sich ganz klar machen, ehe man die Aussage Jesu in dieser Textstelle verstehen kann: In diesen Schriftgelehrten verkörpert sich das Selbstbewusstsein eines Volkes, das sich schon immer religiös als Besonderheit verstand und dessen höchster Ehrentitel in der Selbstbezeichnung als "Kinder Abrahams" liegt (vgl. Mt. 3, 9; Joh. 8, 39). Die Sonderrolle, in der sie sich selbst anderen Völkern gegenüber sehen, findet ihren Ausdruck insbesondere im Tempelkult, der von den "Priestern nach der Ordnung Aarons" aus dem Volksstamm Levi verwaltet und ausgeübt wird.

Unübersehbar ist zunächst die Spannung, in der dieses Priestertum mit dem Priestertum "nach der Ordnung Melchisedeks" schon äußerlich steht:

  • hier ein auf ein einzelnes Volk ausgerichtetes Priesteramt, dessen Ausübung auf eine spezielle Gruppe dieses Volkes beschränkt ist und das im Rahmen eines speziellen Ereignisses (Bundesschluss am Sinai) eingerichtet wurde,
  • dort ein universelles, durch nichts eingegrenztes und offenbar schon immer bestehendes Priestertum.

Der vorläufige, ja provisorische Charakter des aaronitischen Priestertums fällt einem außenstehenden Betrachter bei diesem Vergleich sofort auf: die aaronitische Priesterschaft ist sozusagen eine Gesellschaft mit begrenztem Auftrag und beschränkter Haftung. Die Schriftgelehrtenschaft, mit der Jesus zu tun hatte, war jedoch kein außenstehender Betrachter und zu einer solchen Sichtweise nur schwer fähig.

Was tut Jesus nun mit seiner Frage? Er begibt sich mit ihr auf die theologische Denkebene dieser Schriftgelehrten und relativiert von dort aus mit seiner simplen Frage zwei Dinge, die für das Selbstverständnis als jüdisches Volk konstitutiv, identitätsstiftend waren: der Bezug auf die Königslinie Davids, und eben das aaronitische Priestertum. Mit der Frage nach der Herkunft des Messias sagt er den Schriftgelehrten: "Ihr wollt die Elite und Führer das Volkes sein und es über den Messias, über Gottesdienst und anderes belehren, und kennt euch selbst nicht aus und haltet das Volk in euerer eigenen Unkenntnis gefangen. Wie könnt ihr meinen, dass sich der Messias durch eine Abstammung aus dem Haus Davids für das Volk Israel allein vereinnahmen lässt - sein Handeln geht doch weit über das aaronitische Priestertum hinaus"?


Jesus und die Religion

Kehren wir, um diesen Angriff in vollem Umfang würdigen zu können, noch einmal zur Einbettung dieser Stelle zurück, denn ich bin überzeugt, das man von dem, was Jesus hier mit seiner Messiasfrage ausdrücken will, nicht die Hälfte versteht, wenn man diesen Zusammenhang nicht berücksichtigt. Es ist doch sehr bemerkenswert, dass die drei Evangelisten Matthäus, Markus und Lukas trotz aller Unterschiede, die ihre Berichterstattung an anderen Stellen aufweist, hier über mehrere Episoden hin fast völlig parallel und offenbar ganz bewußt die Stationen einer vernichtenden Auseinandersetzung Jesu mit dem religiösen Establishment aneinanderreihen2). Wenn man sich richtig hineindenkt, gehört diese Geschehniskette zu den aufwühlendsten Abschnitten des Evangeliums. Sie kann hier nur grob skizziert werden, es lohnt sich aber unbedingt, diesen Abschnitt aufmerksam ganz zu lesen (bei Markus Kap. 11 + 12).

2) bzw. einhellig die Reihenfolge ihrer gemeinsamen Vorlage im Wesentlichen übernehmen.


Die Geschehniskette beginnt mit der Geschichte vom Einzug Jesu in Jerusalem, unter den Hosianna-Rufen der Leute, wenige Tage vor seiner Kreuzigung. Im Rahmen einer Geschichte, die die Frage aufwirft, was Glaube eigentlich ist, folgt die Erzählung von der Tempelreinigung – Jesus stößt den Opfertierhändlern und Geldwechslern die Tische um und ruft den berühmten Satz "Mein Haus soll ein Bethaus für alle Völker sein, ihr aber macht eine Räuberhöhle daraus". Dann wird in vier Abschnitten geschildert, wie die verschiedenen Parteien der Schriftgelehrten Jesus mit Fangfragen hereinlegen wollen (darunter die bekannte Frage nach der Steuerzahlung), wie Jesus diese so abwehrt, dass "sie sehr erstaunt waren über ihn" und mit dem Gleichnis von den bösen Winzern so massiv zum Gegenangriff übergeht, dass sie "daraufhin Jesus gerne hätten verhaften lassen, denn sie hatten gemerkt, dass er mit diesem Gleichnis sie meinte".

Plötzlich, im nun folgenden Abschnitt, klärt sich das turbulente Geschehen für kurze Zeit, die Wogen der Erzählung kommen in einer Weise zur Ruhe und auf das Wesentliche, dass sich der Vergleich mit der Erzählung von der Verklärung Jesu auf dem Berg aufdrängt (Mk. 9, 2ff). Wie der ebenso unvermittelte Melchisedekabschnitt in der Abrahamgeschichte, ist dieser Abschnitt nach dem Staub des Vorhergehenden ein Aufstrahlen göttlichen Lichts, der Aufstieg der Seele zur Ruhe auf dem Berg Tabor. Mit wenigen starken und klaren Worten wird nun gesagt, worauf es allein ankommt. Nach den abseitigen theologischen Streitereien der Schriftgelehrten stellt jetzt einer von ihnen, der bisher nur zugehört hatte, Jesus eine echte Frage: Welches Gebot ist das erste von allen? Und Jesus antwortet ernsthaft, direkt, ohne Gegenfrage und Tadel, mit Worten die alle kennen, mit dem Grundbekenntnis Israels (5. Mose 6,4), indem er es erweitert und konkretisiert zum "Doppelgebot der Liebe":

Höre Israel, Der HERR, unser Gott, ist der einzige Herr. Darum sollst du den HERRN, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deinen Gedanken und all deiner Kraft.

Das zweite ist dem gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.

Und dieser Schriftgelehrte sagt: sehr gut! Und "keiner wagte mehr, Jesus eine Frage zu stellen" – die Feinde waren ihm vollständig "unter die Füße gelegt" (Ps. 110!).

Dies ist nun die Stelle, an der Jesus die Messiasfrage in den Raum wirft. Vom Berg Tabor wieder heruntergestiegen, hält er sich nicht mehr auf mit Antworten auf Fragen nach dem Steuerzahlen oder dem Heiraten nach der Auferstehung, sondern wirft jetzt selbst die Lanze. Mit der Messiasfrage – auf den Punkt gebracht durch die Anbindung an den Melchisedekpsalm 110, die dem Messiasgedanken eine umfassende ökumenische Weite gibt – trifft er ins Zentrum.

Und als die Schriftgelehrten diese Frage ohne Antwort lassen, sagt er (zur Freude des zuhörenden Volks, wie Markus vermerkt) den klugen Theologen und geistlichen Leitern des Volks unverblümt ihre Wahrheit: "Sie gehen gern in langen Gewändern umher und lieben es, auf den Plätzen gegrüßt zu werden. Nehmt euch in acht vor ihnen! Sie bringen die Witwen um ihre Häuser ... "

Bringen die Witwen um ihre Häuser, während sie fromm tun? Der Vorwurf der Korruptheit der Volksvertreter ist uns nicht ganz unbekannt. Das Evangelium bringt mehrere Beispiele dafür, ein ganz deutliches schließen die 3 Evangelisten gerade hier an, als Abschluß der Erzählfolge, in die die Messiasfrage Jesu eingebettet ist:

Jesus saß dem Opferkasten gegenüber und sah zu.

Er sah zu, wie die Leute Geld in den Kasten warfen. Viele Reiche kamen und gaben große Beträge. Da kam auch eine arme Witwe und warf zwei kleine Münzen hinein.

Jesus rief seine Jünger zu sich und sagte: Wirklich, ich sage euch, diese Witwe hat mehr hineingeworfen als alle anderen, die nur von ihrem Überfluß etwas hergegeben haben. Diese Frau aber, die kaum das Nötigste zum Leben hat, sie hat alles gegeben, was sie besaß – ihren ganzen Lebensunterhalt hat sie gegeben!

Gewöhnlich wird diese Geschichte aus ihrem Zusammenhang herausgelöst und so ausgelegt, dass Jesus die Opferbereitschaft der Frau seinen Jüngern als Vorbild hinstellt und als Beispiel, das wir nachahmen sollen. Damit erfasst man aber die Aussage dieser Geschichte bestenfalls zur Hälfte. Gewiß ist Jesus vom Glauben dieser Frau, der ihr ermöglicht, nichts festzuhalten und ganz vertrauend zu leben, beeindruckt und will seine Jünger darauf hinweisen. Der Zusammenhang lässt aber noch eine andere Beurteilung Jesu erkennen: was ist das für eine Verkehrung des Glaubens unserer Väter, was für eine schwielige Religion, die das von dieser Frau verlangt und als gottgefällige Tat erscheinen lässt! Jesus, der das Ganze von außen beobachtet, ist darüber zutiefst erschüttert (die Wiederholung "ihren ganzen Lebensunterhalt" zeigt das). Er verlässt mit seinen Jüngern den Tempel, und als sie im Weggehen – immer noch nicht verstehend – den stolzen Bau bewundern, kündigt er ihnen dessen völlige Zerstörung an: "Kein Stein wird auf dem anderen bleiben, alles wird niedergerissen", und er meint: mit dem Bauwerk auch die ihm verhaftete Religionsform, die Priesterschaft nach der Ordnung Aarons. Das  ist der Abschluß der Geschehniskette aus Markus 11 & 12.

Kein Wunder, dass Jesus von den Schriftgelehrten, vom religiösen Establishment, von den auf Bewahrung und Ordnung bedachten und von der Wichtigkeit ihrer Rolle überzeugten Hütern des Volks, ans Kreuz gebracht wurde.

 

Jesus erwähnt Melchisedek nicht ausdrücklich, wie er sich auch selbst nur in speziellen Ausnahmefällen als Messias bezeichnet, aber es ist deutlich: Er braucht ihn nicht erwähnen, denn er lebt  diese Priesterschaft Melchisedeks.

 

 

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Ökumenischer Arbeitskreis

Melchisedekabend
23-Nov-2003

Neue Zugänge zum Glauben

Wir sind jetzt vorbereitend einen langen Weg durch eine zum Teil ungewohnte Gedankenwelt gegangen. Es wird Zeit, den Anspruch des Themas dieses Abends, "Neue Zugänge zum Glauben", zu begründen und zu zeigen, dass diese zum Teil vielleicht abgehoben erscheinenden Überlegungen doch sehr lebensnahe Konsequenzen haben können.

Zuvor müssen wir aber noch wenigstens einen kurzen Blick auf den Hebräerbrief, am Ende des Neuen Testaments, werfen, denn der Hebräerbrief ist von allen Büchern der Bibel dasjenige, das am ausführlichsten von Melchisedek schreibt. Er fügt dem Bisherigen allerdings kaum Neues hinzu, sondern interpretiert im wesentlichen in einer hochtheologischen Gedankenführung den Melchisedekgedanken für seine Leser.


Der Hebräerbrief

Der Verfasser dieses Briefs ist unbekannt. Name und Inhalt des Briefs zeigen jedoch, dass die Adressaten Christen sind, die aus dem Judentum stammen und ihm noch nahestehen.

Die Kapitel 5-7 stellen Christus als den neuen und endgültigen Hohenpriester "nach der Ordnung Melchisedeks" dar. Die Bedeutung der Priesterschaft Melchisedeks wird dabei im Denkrahmen der jüdischen "Sündenbocktheologie" entfaltet. Das im Einzelnen zu erörtern würde hier zu weit führen. Wir greifen nur die folgenden Punkte heraus, die über diesen Denkrahmen hinausweisen:

  • Während man sich bei der Abrahamerzählung noch fragen konnte, wer dieser Melchisedek historisch gesehen wohl "wirklich war", verlagert der Hebräerbrief in Kap. 7,2f die Sicht ganz klar ins Symbolische, denn er sagt über Melchisedek: "Er, dessen Name 'König der Gerechtigkeit' bedeutet und der auch König von Salem ist, das heißt 'König des Friedens' – er, der ohne Vater, ohne Mutter und ohne Stammbaum ist, ohne Anfang seiner Tage und ohne Ende seines Lebens, ein Abbild des Sohnes Gottes ...".

    Melchisedek ist damit keine in einer bestimmten Epoche für eine bestimmte Lebenszeit auftretende "historische" Person, er ist etwas, das der Schöpfung von Anbeginn an "eingewoben" ist und in ihr wirkt – er gehört, wie gesagt, zum Urstoff der Schöpfung. Interessant ist auch, dass dabei zwischen Melchisedek und dem Messias eine Art Kreisbeziehung aufgebaut wird: einerseits ist Melchisedek ein "Abbild des Sohnes Gottes", andererseits tritt Jesus ein in die schon bestehende Priesterschaft "nach der Ordnung Melchisedeks".


  • Im 6. Kapitel steht eine verblüffende Feststellung über die Gewichtigkeit des Melchisedek-Gedankens. Da wird für die Verkündigung unterschieden zwischen "Milch" für die unmündigen Kinder, die noch "unfähig sind, richtiges Reden zu verstehen", und "fester Speise für Erwachsene", um dann die folgenden Kapitel über Melchisedek so einzustufen: "Darum wollen wir jetzt beiseite lassen, was man zuerst von Christus verkünden muss (über die Abkehr von toten Werken ... die Taufen ... die Auferstehung der Toten ...), und uns dem Vollkommeneren zuwenden". Feste Speise soll also mit dem Melchisedek-Kapitel geboten werden.

 

Es scheint, dass damals wie heute den Gemeinden mit Vorliebe Milch, aber feste Speise viel seltener verabreicht wird, andernfalls wäre das Glaubensbild des Melchisedek viel bekannter. Der Hebräerbrief deckt mit der Betonung der Melchisedek-Priesterschaft Christi (die in den Evangelien nur verhüllt angedeutet wird) offenbar einen entscheidend wichtigen Punkt der christlichen Verkündigung auf, wenn er sich auch in der Ausdeutung durch den alleinigen Bezug auf die Sündenbocktheologie vornehmlich an seinen judenchristlichen Adressatenkreis wendet. Mein Eindruck beim Lesen des Hebräerbriefs ist sehr stark, dass er, indem er einen gedanklichen Weg konzentriert bis ans sein Ende beschreitet, über den Endpunkt dieses Weges hinausweist und eine Tür für Neues öffnet, aber selbst noch nicht hindurchgeht. Wir wollen uns aus ihm die obigen beiden Punkte merken.

 

Ein neues Leitbild für uns

Die Melchisedek-Priesterschaft Christi ist für moderne, dem kirchlichen Leben entwöhnte Menschen wohl ein schwer nachvollziehbares, zunächst vielleicht nichtssagendes Bild. Sie wirft aber ein ganz neues Licht auf die Frage, wer Christus für uns ist und wer wir für Christus sind, und da wird es ganz praktisch, ja sogar politisch.

In einem weiteren Brief des Neuen Testaments, dem 1. Petrusbrief, lesen wir nämlich über das Volk Gottes: "Ihr seid ... die königliche Priesterschaft, das heilige Volk ..., dass ihr verkündigen sollt die Wohltaten dessen, der euch berufen hat" (1. Petrus 2,9). Dieser ungeheure Zuspruch bedeutet nicht weniger, als dass wir als Nachfolger Christi nicht passive Objekte der Melchisedek-Priesterschaft Christi sind, sondern mit ihm ebenfalls "Priester nach der Ordnung Melchisedeks". Diese Übertragung der Melchisedek-Priesterschaft hängt nicht nur an dieser Petrusstelle, sondern wird von einer Reihe weiterer Stellen untermauert. Z.B. sagt Jesus im "Hohenpriesterlichen Gebet" (17. Kapitel des Johannesevangeliums) "Wie du mich in die Welt gesandt hast, so sende auch ich sie in die Welt" – nämlich als Priester nach der Ordnung Melchisedeks, und weiter: "Vater, ich will, dass, wo ich bin, auch sie bei mir seien".

Ich bin Priester nach dieser Ordnung Melchisedeks – jeder kann für sich durchdenken, was diese Aussage für ihn bedeutet. Mir stellt sich unweigerlich die Frage, wie die christliche Geschichte verlaufen wäre, wenn dieses Leitbild von Anfang an deutlich im Bewußtsein gewesen und verinnerlicht worden wäre – hätte es dann in der christlichen Welt Ketzerverbrennungen, die Erfindung des Kapitalismus oder die heutige Umweltproblematik gegeben? Und welche Kirchenstrukturen hätten wir dann heute?

Eine weitere Steigerung ist nicht mehr möglich? Vielleicht doch. Skizzieren wir mit einigen abschließenden Strichen, wie man weiterdenken könnte - oder muss! Es gibt da im Glaubensbekenntnis die auf den ersten Blick unscheinbare Aussage über Christus (die u.a. ebenfalls auf Psalm 110 zurückgeht) "er sitzt zur Rechten des Vaters ... ". Diese Aussage, meine ich, muss mehr beinhalten als nur einen Ehrenplatz bei Gott, sonst wäre das kaum ins Glaubensbekenntnis gekommen. Kurz angedeutet, geht es bei ihr um die volle Übertragung der "Regierungsgewalt" auf Jesus, der "zur Rechten sitzt", während Gott selbst in den Hintergrund, ins Verborgene tritt.

Dies wird unterstrichen und zum Abschluß gebracht durch den berühmten "Missionsbefehl" am Ende des Matthäusevangeliums, wo Jesus bei seinem Abschied zu den Jüngern sagt "Mir ist gegeben alle Macht im Himmel und auf Erden ... " – er sitzt zur Rechten – " ... darum geht ihr hin zu allen Völkern". Also nochmals so eine Übertragung! Gott bleibt verborgen, ungreifbar, unauffindbar – um nicht zu sagen widersinnig – für alles außer einem liebenden Herzen, und auch Jesus, sein bevollmächtigter Stellvertreter und der Pulsschlag des Universums, nimmt sich nach dieser Matthäusstelle ausdrücklich zurück und ist in der Menschenwelt nur durch seine Jünger präsent. Dies wird im 1. Johannesbrief so ausgedrückt "Niemand hat Gott je gesehen, aber wenn wir einander lieben, dann bleibt Gott in uns ... Wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm ... Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, kann nicht Gott lieben, den er nicht sieht" (interessant hier eine unerwartete Nähe zu atheistischen Aussagen, die hier nicht mehr nur einfach als religionsfeindlich erscheinen!). "Ich will, dass, wo ich bin, auch sie bei mir seien", nämlich als Priester nach der universellen Ordnung Melchisedeks zur Rechten des Vaters (und vorher in dieser Welt vielleicht auch am Kreuz!) - dieses Wort aus dem Johannesevangelium beinhaltet m.E. auch die Tiefenschicht und die eigentliche Essenz des Missionsbefehls aus "Matthäi am Letzten".

Ich glaube, dass das damit skizzierte Leitbild tatsächlich einen Zugang zum christlichen Glauben bietet, der über alles Bisherige weit hinausgeht, würdig für den Eintritt der Christenheit ins 3. Jahrtausend, in dem einiges anders werden muss als es bisher gedacht und gelebt wurde, wenn die Menschheit überleben will. Er würde den Kirchen eine gewaltige Umorientierung abverlangen, denn weder die "top-down"-Struktur des Katholizismus (und der Ostkirchen) noch die individualistische Sündenfixierung des Protestantismus kommen diesem Leitbild nahe. Ich glaube auch, dass damit ein wesentlicher Schritt zur Verwirklichung dessen getan würde, was Jesus mit seinem Ruf zur Nachfolge, mit dem Vaterunser und mit der erneuerten ausschließlichen Priorität, die er dem "Doppelgebot der Liebe" zuspricht, gemeint hat.

Schlußbemerkungen

Es mag sein, dass das Leitbild eines universalen Hohenpriesters des Friedens nicht jeden anspricht und nicht für jeden eine Identifikationsmöglichkeit bietet. Leitbilder haben immer einen stark persönlichen Bezug – welches Leitbild einer für seinen Glauben wählt, hängt sehr stark mit seinem persönlichen Lebenszugang und mit den fundamentalen Fragen, die er stellt, zusammen:

Luther zum Beispiel, der in Deutschland antrat, massive Mißstände im kirchlichen Leben zu reformieren, stellte aufgrund seiner Lebens- und Kirchenerfahrung die Frage "Wie kriege ich einen gnädigen Gott?" und kam so zum Leitbild der "Rechtfertigung allein durch den Glauben".

Theresa von Avila, die eine Generation nach Luther in Spanien ihren weitgehend verweltlichten und geistlos gewordenen Karmeliterorden reformierte (und damit weit über ihren Orden hinaus das geistliche Leben bis in unsere Zeit), stellte andere Fragen und kam zu einem anderes Leitbild, das man vielleicht beschreiben könnte als eine Braut, die ihrem Bräutigam entgegeneilt und sich liebend in seine Arme fallen lässt.

Es ist deshalb wichtig, dass unterschiedliche Leitbilder angeboten und wachgehalten werden. Das meint auch der Plural "Neue Zugänge" im Titel des Abends: es wäre nicht nur zwecklos (und im Widerspruch zum "Bibel-zum-Anfassen"-Ansatz), autoritativ und ex cathedra 1 neues Leitbild zu "dekretieren". Auch das Melchisedek-Leitbild stellt keinen völlig fixierten Deutungsrahmen dar und ist offen für unterschiedliche Ausprägungen und Gewichtungen.

So ist es zum Schluß vielleicht hilfreich, das Melchisedek-Leitbild anzuknüpfen an ein bekannteres: Im sogenannten "Gleichnis vom verlorenen Sohn" (Lukas 15,11ff) entwickelt Jesus das Leitbild des "barmherzigen Vaters", der mit Melchisedek viel gemeinsam hat. Was den persönlich-menschlichen Aspekt betrifft, kann der Vater, der – nachdem er seinen Sohn in eine selbstgewählte Freiheit entlassen hat – mit wartendem Herzen jederzeit bereit ist, dessen Rückkehr zu feiern, durchaus mit Melchisedek gleichgesetzt werden. Jesus ruft mit diesem Gleichnis ausdrücklich dazu auf, sich das Leitbild des "barmherzigen Vaters" zueigen zu machen, und dieses Leitbild mag für viele eine näherliegende Identifikationsmöglichkeit bieten als der unbekannte Melchisedek.

Das Melchisedek-Leitbild reicht jedoch weiter, es hat über den persönlich-menschlichen Aspekt hinaus ökologische, ökonomische und politische und letztlich "kosmische" Aspekte – der universelle Charakter dieses Priestertums wurde bereits eingangs hervorgehoben. Zusammen mit der im vorigen Abschnitt skizzierten Ausweitung dieser Priesterschaft auf alle Gläubigen (d.h. auf alle, die Jesus auf dem Weg des 1. Gebots nachfolgen) bildet das Melchisedek-Leitbild somit eine überaus konkrete und weitreichende Handlungsbasis, die als neue Stütze auf dem Weg in die "Zukunft der Kirche" unverzichtbar erscheint.

Peter Hiltner



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